Es war nicht nur ein sonniger Tag in Venedig;
es war eine Odyssee durch die Biennale, gespickt mit Kunst, Kaffee und einer unausgesprochenen Sehnsucht nach dem Erhabenen. Während ich mich durch die verwinkelten Gassen kämpfte, wurde mir klar, dass dies keine gewöhnliche Kunstausstellung war. Die Biennale war vielmehr eine große Spielwiese für Ideen, Utopien, Analysen und Erfahrungsräume. Auf diesem Trip war mein Ziel jedoch klar definiert: Ich wollte Walton Fords legendäres Gemälde “An Apparition” erleben. Der Löwe auf diesem Bild war nicht nur ein Tier; er war ein Symbol für alles, was das Leben lebenswert macht. Stärke, Leidenschaft und die unaufhaltsame Suche nach Bedeutung in einer oft rätselhaften Welt – all das verkörpert er.
Ich selbst hege auch eine Faszination für Löwentattoos. Wer will nicht wie ein stolzer Löwe aussehen, der die Savanne durchstreift, während er tatsächlich nur durch den Großstadtdschungel schlendert, auf der Suche nach dem nächsten Coffee-Shop? Auf gewisse Weise erlauben uns solche Tattoos, unsere wilden Instinkte zu zeigen – ähnlich dem Löwen, der in der Steppe brüllt.
“An Apparition”
Als ich den Raum betrat, in dem “An Apparition” hing, spürte ich sofort seine Präsenz. Der majestätische Löwe schien aus der Leinwand herauszutreten, seine Augen durchbohrten mich förmlich und forderten mich heraus, meinen eigenen Platz im Universum zu finden, meine eigene Bestimmung zu erkennen. Der Löwe trug, genauer gesagt, er schleppte, eine Menge Bücher. All das Wissen, mit dem wir versuchen, die Welt zu beschreiben. Mir fiel Homer und seine Epen ein. Eine ewige Wüste von Worten und Sätzen. Menschen werden das immer tun: Bücher schreiben. Immer schon hat uns die Unendlichkeit des Himmels fasziniert: Überall Sterne, Galaxien an Galaxien. Dennoch haben Menschen niemals aufgehört, den Himmel zu beschreiben und Bücher zu schreiben, wie es dort und auf der Welt im Allgemeinen aussehen könnte – und irgendwann “muss”. Ja, Bücher bringen Ordnung, aber wenn die Ordnung zu schwer wird, zu viele Regeln und Gesetze aufstellt, werden sie zur Last.
Irgendwann werden die Worte von anderen zu viel. Und man muss sich befreien, um eigene Worte zu finden, das eigene Buch zu schreiben. Ein Löwe werden. Das sind meine Gedanken.
“A Voice”
Eine Stimme hinter mir durchbrach die Stille. Eine Stimme, die von tiefer Weisheit und einem Hauch von Ironie durchdrungen war. Es war Walton Ford selbst, der Mann hinter dem Meisterwerk, der mit einem verschmitzten Lächeln auf den Lippen fragte, ob mir gefalle, was ich sah. “Es ist faszinierend”, antwortete ich, doch ich spürte, dass noch mehr zu entdecken war.
Wir sprachen über Nietzsche und seine Ideen von Macht und Ewigkeit, über die Natur des Lebens und die endlose Suche nach Sinn. Dabei erinnerte ich mich an Nietzsches Konzept der “drei Verwandlungen”: Vom Kamel, das Lasten trägt und Regeln befolgt, zum Löwen, der sich gegen diese Regeln auflehnt und nach seiner eigenen Wahrheit sucht, und schließlich zum Kind, das spielerisch und frei das Leben neu erschafft. Diese Interpretation durchdrang unsere Diskussion und färbte unsere Betrachtung von “An Apparition” mit neuen Facetten.
Doch nicht nur die philosophische Tiefe des Gemäldes fesselte mich. Als Autor für unser Tattoomagazin Anansi bin ich stets auf der Suche nach neuen Inspirationen. Die Löwenmetapher, die Ford in seinem Werk verkörperte, war genau das, wonach ich suchte. Ein Symbol für Stärke, Mut und die unaufhaltsame Suche nach Selbstverwirklichung.
(Tattoo von Tattoo Anansi, Zouzou)
Als ich die Ausstellungshalle verließ und mich auf den Heimweg machte, merkte ich, dass diese Bilder mich sehr beeindruckt hatten. Sie inspirieren mich, weiterhin nach den verborgenen Schätzen des Lebens zu suchen, nach jenem Funken, der uns alle antreibt, unsere eigenen Löwen zu finden und sie mit Leidenschaft und Hingabe zu zähmen. Ein Tattoo mit einem Löwen soll mich an diese Erfahrung erinnern. Die engen Straßen schlängelten sich wie ein verschlungener Faden durch die Stadt, und hinter jeder Ecke stieß ich auf Löwenstatuen und Löwenbilder. Es war ein seltsames Gefühl, das mich überkam, als ich durch die endlosen Gassen wanderte. Der Aperol Spritz hatte meine Sinne benebelt, und plötzlich fühlte es sich an, als ob ich in einem Wirbel aus Halluzinationen gefangen wäre. Erhabene Löwenstatuen thronten auf den Dächern der Paläste, während Löwenköpfe von den Wänden der Häuser herabschauten. Selbst die Kanäle schienen sich zu verändern, als würden sie die Gestalt majestätischer Löwen annehmen, die in der Dunkelheit lauerten. Es war eine surreale Erfahrung, die mich an den Film “Wenn die Gondeln Trauer tragen” erinnerte, in dem die Grenzen zwischen Traum und Realität verschwimmen und die Stadt selbst zum lebendigen Organismus wird. All das verdanke ich dem Löwen, der sich mal auf einem Bild, mal auf einem Tattoo zeigt und zu mir spricht. Käme jedoch ein echter Löwe aus Fleisch und Blut um die Ecke, ich würde um mein Leben rennen.
(Text: Julian Bachmann / Grafik: Jonas Bachmann; by studio-marco.com)