Völlig losgelöst • Tattoos unter Vollnarkose.

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Da sitzt du also, auf diesem Plastikstuhl in der schummrigen Wartezimmeratmosphäre einer Tätowierungsstube, die mehr nach Desinfektionsmittel riecht als nach Rebellion. Die Klimaanlage säuselt ein melancholisches Lied von steriler Hygiene, während du versuchst, dich von den durchdringenden Summen der Nadeln abzulenken. Deine Haut liegt blank und schutzlos vor dir, ein unbeschriebenes Blatt in einem Meer von Tinte und Farbe. Und dann, wie ein Priester der Kunst, tritt der Tätowierer mit seinen Werkzeugen heran – ein Künstler im Kittel, ein Chirurg des Selbstausdrucks. Aber bevor du dich versiehst, wirst du von einer Welle erfasst, von der Vollnarkose.

Tätowierungen unter Vollnarkose haben einige Vorteile: Ich entledige mich der Schmerzen, die beim Tattoo-Stechen üblicherweise anfallen. Ich brauche mich nur fallen zu lassen – die Augen schließen sich langsam, ich überlasse meinen Körper den Meistern der Nadeln, und Schwupps: aufgewacht und frisch tätowiert.

No risk, no fun.

Vollnarkosen mögen medizinische Wunder sein, aber sie tragen auch Risiken in sich. Dein Körper wird in einen künstlichen Schlaf versetzt, während Chemikalien durch deine Venen fließen. Neben den Risiken von Nebenwirkungen und Allergien gibt es auch das Risiko von Komplikationen während der Narkose selbst. Die Balance zwischen dem Verlangen nach Kunst und den Risiken der Betäubung ist ein Tanz auf einem Drahtseil, bei dem das Gleichgewicht manchmal verloren gehen kann. Zu den Nachteilen gehören sicherlich allergische Reaktionen auf die verwendeten Anästhetika, Atemprobleme, Blutdruckprobleme und mehr. Einige Studien haben eine vorübergehende Beeinträchtigung der geistigen Leistungsfähigkeit nach einer Vollnarkose festgestellt. Es ist jedoch wichtig anzumerken, dass die meisten Patienten keine langfristigen Probleme erfahren. Letztlich ist zu bedenken, dass nicht überall die hygienischen Standards eingehalten werden: Das Risiko einer Infektion erhöht sich, wenn diese Geräte nicht ordnungsgemäß steril gehalten werden.

Wir wollen den Teufel nicht an die Wand, bzw. auf die Haut malen.

Meiner Meinung nach geht es aber um eine ganz andere Frage: Gehört der Schmerz, der bei der Tätowierung entsteht, nicht dazu? Wie die andere Seite einer Medaille, wie Stan Laurel und Oliver Hardy, oder wie in Goethes Faust:

Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust…

Goethes Weltsicht fußte auf einer alles durchwirkenden Polarität in der Welt des Seins. Kunst und Schmerz, zwei Geschwister in Streit und Liebe vereint.

Ist nun die Vollnarkose, immer noch ein beliebtes Mittel aus den OP-Sälen der Krankenhäuser, wirklich ein geeignetes Tool der Body-Modifikation Szene? Ein vollends umgestaltetes Echsenwesen, das bis in die Knochen hinein von seinem Menschenkörper in die Gruppe der Reptilien umgesiedelt ist, würde das wohl meinen. Aber gilt das auch für uns Tätowierte, die sich ein besonderes Motiv oder einen sehr persönlichen Sinnspruch auf dem Körper verewigen? Ist die Vollnarkose nicht ein Schießen auf Spatzen, wenn es darum geht, ein besonderes Tattoo zu kreieren? Gehören nicht eben die Schmerzen zu meinem Tattoo dazu, sodass es sich auf ewig einbrennt – äußerlich wie innerlich? Ein Tattoo ist eine Form der Selbstentfaltung, ein Ausdruck deiner Persönlichkeit auf der Haut, eine stolze Rebellion gegen die Normen.

Die Vollnarkose könnte diese Rebellion auslöschen, deine Fähigkeit zur bewussten Teilnahme an diesem Akt der Kunst rauben. Du könntest aufwachen und feststellen, dass die Tätowierung auf deinem Körper prangt, aber dass ein Teil deiner Seele in den Tiefen der Narkose verloren gegangen ist. Das Werk mag beeindruckend sein, aber wird es wirklich dein Werk sein? Oder wirst du dich fühlen, als hättest du das Steuer deines eigenen Ausdrucks aus der Hand gegeben? Denn deine Schmerzen beim Tätowieren lassen dich direkt bei der Tätowierung dabei sein, ja noch mehr, du bist Teil des Entstehungsprozesses.

Tattoos sind nicht nur Kunstwerke, die auf der Haut prangen. Sie sind Geschichten, Erinnerungen, Manifestationen von Identität. Und was wäre das Leben ohne Schmerz? Ein flaches Gemälde ohne Struktur, ein leeres Blatt Papier ohne Buchstaben. Der Schmerz ist der Pinsel, der die Tinte tief in die Haut treibt, der die Geschichte mit Leben erfüllt.

Es ist, als würden sie mit jedem Stich eine Erinnerung einprägen, die für immer bleibt. Ein Stückchen Zeit einfangen, festhalten, einschließen. Die Nadeln tanzen auf der Haut, und die Schmerzen verschmelzen mit den Bildern zu einer Symphonie der Empfindungen. Es ist ein Tanz zwischen Künstler und Leinwand, zwischen Tätowierer und Träger. Ein Tanz, der Schmerz und Freude in einer ekstatischen Melodie vereint.

Diejenigen, die den Schmerz suchen, wissen um die Vergänglichkeit des Augenblicks. Sie begreifen, dass das Leben kein fließendes Bild ist, sondern eine Serie von Pausen, von stillstehenden Momenten, in denen sie die Kontrolle über ihren Körper und ihre Emotionen haben. Ein Tattoo ist wie eine Landkarte der eigenen Reisen, eine Sammlung von Markierungen, die die Stationen des Lebens kennzeichnen.

Und vielleicht, nur vielleicht, wirst du auf der anderen Seite nicht nur ein beeindruckendes Kunstwerk haben, sondern auch eine Geschichte – eine Geschichte von Schmerzen, Ohnmacht und einer fragilen, doch kraftvollen Form der Rebellion.

Vielleicht ist es also nicht der bloße Schmerz allein, der diejenigen antreibt, die sich unter die Nadel legen. Vielleicht ist es die Sehnsucht nach dem Leben, nach der Erinnerung, nach dem Empfinden bis in die tiefsten Schichten der Existenz. Tattoos brauchen Schmerz, aber dieser Schmerz ist nur der Pinselstrich auf der Leinwand des Lebens, die ständig weitergemalt wird – Stich für Stich, Bild für Bild, Tanz für Tanz.

Text: Julian Bachmann

Grafik: Jonas Bachmann

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