Der Vegvisir – ein verwirrender »Kompass«

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Der Vegvisir – ein verwirrender »Kompass« • Tattoo Lexikon

Kaum ein Motiv ist innerhalb der letzten Jahre so populär geworden wie der isländische »Vegvisir« – und zu kaum einem Motiv kursiert so viel Unsinn in Bezug auf Herkunft und Bedeutung.

Der Reihe nach: Der Vegvisir ist ein isländisches Zaubersymbol, das in mehreren isländischen Zauberschriften gezeigt und beschrieben wird. Im Huld-Manuskript, das 1860 zusammengestellt wurde, heißt es dazu: »Trag dieses Zeichen und du wirst weder im Sturm noch bei schlechtem Wetter verloren gehen, auch wenn die die Gegend unbekannt ist.« In dem Galdraskraeda genannten Zauberbuch von 1940 findet sich eine ähnliche Beschreibung des Zauberzeichens: »Trag dieses Zeichen bei dir und du wirst kaum jemals deinen Weg im Sturm verlieren oder vor Entkräftung sterben, selbst wenn du mit der Umgebung nicht vertraut bist.« Die Darstellung des Symbols im Huld-Manusktript und in der Galdraskraeda unterscheiden sich in einigen Details, im Internet finden sich unzählige weitere, teils mehr, teils weniger verfremdete und abgewandelte Varianten.

Soviel zu den Fakten. Tatsächlich finde man dieses Symbol aber oft unter dem Namen »Wikinger-Kompass«, eine sehr irreführende und auch falsche Bezeichnung. Die Bezeichnung »Kompass« scheint naheliegend, da das Symbol ja tatsächlich wie ein Kompass der Orientierung dient und, ebenfalls wie ein Kompass, acht Richtungen anzuzeigen scheint, für Norden, Süden, Ost und West und die jeweiligen Richtungen dazwischen, wie Süd-West, Nord-Ost usw.

Doch diese Ähnlichkeit ist rein zufällig; auch viele andere isländische Zaubersymbole, die überhaupt nichts mit Orientierung oder Navigation zu tun haben, zeigen diese acht Speichen. Diese charakteristische Art von Zaubersymbolen in dieser Form entstand in Kontinentaleuropa ab dem späten Mittelalter und der Renaissance; man findet verblüffend ähnliche Symbole mit acht Speichen im berühmten Zauberbuch »Clavicula Salomonis«, aber genauso auch in alpenländischen Zauberschriften wie z.B. einer Zauberrolle aus Oberösterreich von 1594. Es ist bekannt, dass isländische Magier und Okkultisten zu dieser Zeit in Europa studierten und die dort geläufigen Zauberzeichen kannten. Es ist wahrscheinlich, dass unter dem europäischen Einfluss dann auch in Island Zauberzeichen in dieser Art, wie eben der Vegvisir, entstanden.

Wie kommt aber die offensichtlich unsinnige Verbindung zu den Wikingern zustande, wo das Symbol doch erst viele Jahrhunderte nach der Wikingerzeit auftaucht?

Schuld daran ist, soweit es sich rekonstruieren lässt, vermutlich die isländische Sängerin Björk, die sich vor vielen Jahren dieses Symbol tätowieren ließ. In einem Interview darauf angesprochen, behauptete sie, die Wikinger hätten sich dieses Zeichen in ihre Schiffe geschnitzt, um stets sicher nach Hause zu finden – eine hübsche Geschichte, aber definitiv falsch: aus der Wikingerzeit ist dieses Symbol nirgendwo belegt, schon gar nicht in Form irgendwelcher Schnitzereien auf Schiffen, und auch in sonstigen Quellen aus dieser Zeit ist nirgendwo von einem Symbol mit dieser Bedeutung die Rede. Ob Björk in diesem Interview absichtlich selbst erfundenes Seemannsgarn erzählte oder ob sie nur wieder gab, was sie selbst gehört hatte, ist nicht bekannt.

Doch seit in der HBO-Serie »Vikings« der Mythos vom »Wikinger-Symbol« aufgegriffen wurde und dort Schilde mit dem Symbol zu sehen waren, das tatsächlich frühestens zur Zeit der Renaissance auftauchte, ist die Falschzuschreibung des Zauberzeichens in die Wikinger-Zeit praktisch unauslöschlich geworden.

Doch damit nicht genug; in einem Versuch, Neu-Heiden zu ärgern, die sich mit dem vermeintlichen Wikinger-Symbol schmücken, verbreitete vor Jahren ein Hobby-Historiker die Behauptung, der Vegvisir sei tatsächlich sogar ein »christliches« Symbol – denn in den Zauberschriften, in denen er zu finden sei, würden auch christliche Figuren wie Jesus, Maria oder christliche Heilige angerufen. Das ist zwar richtig, doch zur Wahrheit gehört auch, dass sich in beinahe jedem europäischen Zauberbuch der letzten anderthalb tausend Jahre auch christliche Bezüge finden. Das mag verwirrend klingen, da es (fälschlicherweise) oft so dargestellt wird, als ob Zauberei und Christentum unüberwindbare Gegensätze darstellen würden, tatsächlich war europäische Magie und Zauberei aber schon seit der Antike sehr synkretistisch, das heißt, sie bediente sich gern verschiedenster Einflüsse, völlig ungeachtet der Herkunft. Das bedeutet aber deshalb nicht, dass der Vegvisir ein christliches Symbol ist oder einen christlichen Symbolgehalt hat.

Was also gesichert ist: Der Vegvisir ist auf alle Fälle ein magisches Symbol, dass tatsächlich dem isländischen Volksglauben und dort tatsächlich praktizierter Magie entstammt – allerdings stammt das Zauberzeichen definitiv nicht aus der Zeit der Wikinger sondern wurde frühestens in der Zeit nach dem Mittelalter geschaffen und lässt sich schriftlich erst ab dem 19. Jahrhundert belegen.

Tattoo von Tattoo AnansiText: Dirk-Boris Rödel

Grafik: Jonas Bachmann

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