Tattoo Lexikon • von Dirk-Boris Rödel
Keltische Kunst – da denken wir normalerweise sofort an verschlungene Flechtknotenmuster, zopfartig ineinander verwundene Tierkörper und komplexe Ornamente. Doch das, was wir beim Stichwort »keltische Kunst« gleich stereotyp vorm geistigen Auge haben, ist eigentlich nur bedingt als keltisch zu bezeichnen, denn ursprüngliche keltische Kunst sieht vollkommen anders aus.
Früheste keltische Kunst aus der sogenannten Hallstattzeit (ca. ab 800 v. Chr.) und der nachfolgenden Latènezeit (ca. ab 450 v. Chr.) hat mit diesen Flechtknoten-Ornamenten noch überhaupt nichts zu tun. Vielmehr lehnte sich die keltische Kunst damals stark an die der benachbarten Etrusker an und wurde auch von der griechischen Antike, später von den Römern stark beeinflusst.
Bei Kunstwerken der frühen Kelten auf den britischen Inseln, wie zum Beispiel beim berühmten Battersea-Shield, drängt sich aufgrund der stilistischen Nähe sofort und unvermeidlich der Vergleich zum Jugendstil des frühen 20. Jahrhunderts auf. Mit den Flechtknoten-Ornamenten und zopfartigen Bändern hatte aber auch dieser Kunststil noch nichts zu tun.
Was wir heute als »typisch keltisch« ansehen, entwickelte sich erst, als germanische Angeln, Sachsen, Friesen, Niederfranken und Jüten ab dem 5. Jahrhundert auf die britischen Inseln vordrangen und ihren eigenen Kunststil importierten, bei dem bis zur Abstraktion ineinander verschlungene Tier- und Fabelwesen eine große Rolle spielten.
Im Zuge der Verschmelzung von Kelten und germanischen Zuwanderern bildete sich dann nach und nach eine britische Version des germanischen Kunststils heraus, die uns heute vor allem aus dem überreich verzierten »Book of Kells« bekannt ist, einem Evangeliar, das im achten oder neunten Jahrhundert auf der schottischen Insel Iona angefertigt wurde und heute mit seinen vielen Bildern und Ornamenten als Inbegriff keltischer Kunst gilt – obgleich die Kelten als eigenständiges Volk zu dieser Zeit bereits gar nicht mehr existierten und längst im keltisch-romanisch-germanischen Mischvolk der heutigen Briten aufgegangen waren.
Text: Dirk-Boris Rödel
Grafik: Jonas Bachmann