Meerjungfrauen sind sehr ambivalente Kreaturen; die äußerst attraktiven Frauengestalten erscheinen extrem begehrenswert und verführerisch, doch derjenige, der sich auf sie einlässt, ist dem Tode geweiht. Denn tatsächlich haben diese Geschöpfe in alten Mythen wenig mit Arielle aus dem gleichnamigen Disney-Film zu tun; es sind keine freundlichen und dem Menschen wohlgesonnene Geschöpfe, sondern vielmehr todbringende Unwesen. Wer ihnen zu nahe kommt, wird von ihnen in die Tiefe gezerrt und stirbt einen qualvollen, nassen Tod.
In der Gestalt der Meerjungfrau spiegelt sich natürlich einerseits die Sehnsucht von Seeleuten nach weiblicher Gesellschaft, andererseits aber auch die Furcht vor dem, was unter der Wasseroberfläche lauert.
Verwandte der Meerjungfrauen beschrieb bereits der griechische Dichter Homer in seiner »Odyssee«; bei ihm waren es verführerische Sirenen, die den Helden Odysseus und seine Mannschaft mit ihrem betörenden Gesang verzaubern und ins Unheil stürzen wollten.
Geschichten von Meerjungfrauen haben in gewisser Weise auch einen erzieherischen Effekt; sie sollten Menschen davor warnen, sich zu nah an tiefe Gewässer zu wagen oder auf See unvorsichtig zu werden. Zu diesem Zwecke sind auch in anderen Kulturen Fabelgestalten erdacht worden, die Menschen einen heilsamen Schrecken einjagen sollten: In Schottland soll man angeblich an den Ufern der tiefen schottischen Seen oft wunderschöne und zutrauliche Pferde sehen. Doch wer sich dazu hinreißen lässt, auf ihnen zu reiten, wird von den Kelpies genannten Untieren in die Tiefen der Highland-Seen gezerrt. In Japan sind es die Kappa, die unvorsichtigen Badenden auflauern, um diese zu ersäufen. Sie sind weniger attraktiv als unsere Meerjungfrauen, denn sie haben eine Art Vogelschnabel und einen Schildkrötenpanzer. Im Schädel haben sie eine große Delle, in der sie Wasser tragen, das ihnen ihre Kraft verleiht. Dementsprechend einfach ist es zumindest, sich gegen japanische Kappa zu wehren. Man muss sich nur vor ihnen verbeugen – und wenn der Kappa den Gruß erwidert, verschüttet er das Wasser aus seiner Kopf-Schale und verliert damit jegliche Macht.
Text: Dirk-Boris Rödel
Grafik: Jonas Bachmann